«Die Europäerin», ein Musiktheater nach dem Mikrogramm 400 von Robert Walser
1 tiefer Mezzosopran, 1 hoher Bariton, 1 Schauspieler, 1 scordierte Viola, 1 div. Blockflöten + Okarina
Kompositionsauftrag des Festival Rümlingen 2021, mit Unterstützung von:
Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und Fachausschuss Musik BS/BL
Zum Werk:
Anfangs der Zwanzigerjahre begann Robert Walser – nach einer Schreibblockade – Texte in winzigster Schrift mit Bleistift auf kleine, gebrauchte Blätter zu schreiben: Rück- oder Vorderseiten von Kalendern oder Briefumschlägen etwa. Nur für ihn selbst lesbar. Im Nachlass fanden sich über 500 solche Blättchen. Man nennt sie «Mikrogramme». Lange Zeit galten sie als unlesbar. Dank enthusiastischen Spezialisten (Jochen Greven, Werner Morlang und Bernhard Echte zunächst) liegen sie heute vor, in sechs Bände gedruckt und verlegt vom Suhrkamp-Verlag.
Mikrogramm 400 (ca. 8 x 17 cm) mit fast 9'000 Zeichen (im Bühnenbild ca. 30-fach vergrössert) enthält vier Texte verschiedener Gattungen, aber inhaltlich aufeinander bezogen: Einen kritischen Aufsatz über Kleist als Dramatiker, eine Szene für drei Personen und zwei Gedichte. Es ist wohl Anfang Oktober 1927 in Bern entstanden.
Ausgangspunkt ist der Text über Kleist als Theater-Autor, am Ende einer mehr als zwanzigjährigen Beschäftigung Walsers mit diesem Dichter, dem er sich offenbar wesensverwandt fühlte. Allerdings widerspiegeln seine Wahrnehmungsweisen auch den Gang der europäischen Geschichte: Kleist, im 19. Jahrhundert bloss ein Geheimtipp wacher Literaten, wurde im anbrechenden zwanzigsten Jahrhundert zu einer Leitfigur, leider auch der deutschnationalen Bewegung.
Walser lebte von 1905 bis Ende 1912 in Berlin, wo er beim Aufbruch der Moderne in Kunst, Literatur und Theater als Beobachter zugegen war, aber auch als Autor von drei Romanen, Essays, Prosa, Dramen und Gedichten weithin wahrgenommen wurde (nachdrücklich zum Beispiel von Kafka und Musil). Sogar nach seinem Rückzug in die Schweiz hat er aus der Ferne das Kultur- und Weltgeschehen zeitunglesend (im Café?) verfolgt und auch offen oder verdeckt in Texten kommentiert.
So war zum Beispiel das Thema Europa 1927 in aller Munde. Sogar von einem «Pan-Europa» war die Rede. Die Aussenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann hatten im Jahr zuvor für ihre Verständigungsversuche zwischen Frankreich und Deutschland (im «Locarno-Pakt») den Friedensnobelpreis erhalten. Dass Walser in dieser Zeit auf dieses Europa-Thema immer wieder anspielt, freilich auch hier nicht ohne Ironie, verrät seine Skepsis gegenüber jeglicher Art von Commonsense.
Die erste Fassung des Theateraufsatzes war möglicherweise als Beitrag zum 150. Geburtstag von Kleist gedacht (18.10.1777), gerät ihm aber in seinem ebenso kritischen wie ironischen Tonfall derart «daneben», dass er gleich eine zweite, schwächere, aber druckfähige Fassung (in Tinte) herstellt, in der er den Namen Kleist und dessen Werktitel weglässt. (auch sie wurde freilich nicht gedruckt). Für Walser scheitern Kleists Helden an einem «Treuherzigkeitscharakter», der ihnen jeweils schon vom Anfang eines Stückes an anhaftet.
Als «Muster» eines Gegenbeispiels etwa entwirft Walser direkt unter diesem Theateraufsatz den Anfang einer Szene zwischen einer selbstbewussten, scheinbar emanzipierten Frau, Die Europäerin benannt, und einem ebenso aufstrebenden wie empfindsamen jungen Dichter, nur Ihr Freund geheissen, der die Frau verehrt und kritisiert. Die dritte Person wird nur als Ihr Begleiter bezeichnet; ein Diener? ein Aufseher? Im Musiktheater ist er der Autor, R.W. selbst. Das Publikum, das für Walser – wohl auch ironischerweise – die Instanz für Gelingen oder Scheitern wäre, darf anfangs nicht bereits wissen, wer «gewinnt».
Walser schreibt für diese drei Rollen fast imitierend «traditionelle Dialoge», die nun vom Komponisten und der Regisseurin auch absichtlich dementsprechend komponiert und inszeniert wurden. Es gibt immer wieder, wie schon im Text, kleine liedartige oder ariose «Nummern». Die Szene bricht genau dort ab, wo Walser mit seinem Bleistift am unteren Rand seines Blättchens angekommen ist und dafür den Begleiter vorschickt.
Daneben, an den linken Rand geschrieben, öffnen die beiden Gedichte sprachlich, musikalisch und szenisch den Raum:
Das erste Gedicht, gleich zum Anfang, beginnt mit «Blonde Bestie, stör’ mich nicht», (einem populären Nietzsche-Zitat), einem Duo des Freundes mit der solistischen Okarina.
Das zweite Gedicht, gegen Ende des Stücks, heutzutage noch irritierender: Frauen sind in Gemächern / bei Spiegeln, Schmuck und Fächern / das bange Warten selber. Es erklingt zunächst abstrakt, jede Silbe ein Ton. Sprachtropfen im Schatten. Zuletzt als kleiner Song, resp. Choral.
Danach die drei Personen aus der Szene nochmals:
Die Europäerin «Was ist mit dir?»
(Ihr Freund) «tönte gellend der Herrin Schrei, im Hof macht bellend ein Hund sich geltend»,
Ihr Begleiter «die Gardinen haben erschrockene Mienen, die Uhr schlägt langsam sieben, und ihm ist alles völlig unfassbar geblieben.»
Der Text von «Die Europäerin» gibt exklusiv und vollständig den Wortlaut von Walsers Mikrogramm 400 wieder. Nichts wurde hinzugefügt.
Zum Instrumentarium:
Blockflöte und Okarina, von e i n e r Person gespielt. Ein Instrument aus der Volksmusik mit bloss einer Dezime Umfang, aber einer Tonfülle, die wie im Freien klingt. Blockföten dagegen, mit höchster Beweglichkeit wie «sprechend». Mit grossem geschichtlichem Hintergrund aus früheren Jahrhunderten.
Viola, ein Instrument des «sprechenden Spiels». Zwei Umstimmungen («Scordaturen») ergeben einen Grundklang, der das ganze Stück prägt:
A – g – c’ – a’
Auch hier sind Lagen und Beweglichkeit partnerschaftlich zur Sprache.
Roland Moser (24.01.2022)
Regie und Ausstattung: Ingrid Erb
Leila Pfister (Die Europäerin), Niklaus Kost (Ihr Freund), Jürg Kienberger (Ihr Begleiter/Autor), Alessandro d'Amico (Viola, musikalische Leitung), Conrad Steinmann (Blockflöten / Okarina)
Premiere 18. September 2021 im Rössli-Saal Trogen (Appenzell AR).
Regie und Ausstattung: Ingrid Erb
Leila Pfister (Die Europäerin), Niklaus Kost (Ihr Freund), Jürg Kienberger (Ihr Begleiter/Autor), Helena Winkelman (Viola, musikalische Leitung), Conrad Steinmann (Blockflöten / Okarina)
Gastspiel Gare du Nord Basel 29/30. Januar 2022
Besetzung wie am 18. Sept. 2021